Der Fahnenklau

So schmeckt Deutschland, Antonio de Luca für Farbwerte
So schmeckt Deutschland, Antonio de Luca

Wem gehört eigentlich die schwarz-rot-goldene Flagge?
Von Robert Eysoldt – 25. Februar 2021

Aktuell erleben wir weltweit das Wiedererwachen von Identitätsbestrebungen, in denen Menschen nach nationalen Symbolen greifen. Dabei werden sie auch von Gruppierungen vereinnahmt, die demokratische und freiheitliche Symbole für ihre ausgrenzenden Botschaften umzudeuten versuchen. Eine Entwicklung, die man auch in Deutschland beobachten kann.

Am 9. November 2020 hat sich der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sehr deutlich gegen einen Missbrauch der Deutschlandfahne durch Extreme positioniert.

„Schwarz-Rot-Gold, das sind die Farben unserer demokratischen Geschichte, die Farben der Einigkeit und der Gerechtigkeit und der Freiheit. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie von denen gekapert und missbraucht werden, die neuen nationalistischen Hass schüren wollen.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, 9. November 2020

Die Vereinnahmung von nationalen Symbolen hat Kalkül. So hat die NPD, die älteste rechtsextreme Partei der Bundesrepublik, schon vor Jahren die Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot niedergelegt, um sich in ihren Wahlkämpfen in Schwarz-Rot-Gold zu präsentieren. Am völkischen und rassistischen Programm hat sich allerdings nichts änderte.

Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick spricht von einem „echten Fahnenklau“ und sieht, dass es rechten Gruppierungen immer wieder gelingt, die Farben mit ihrer Idee zu besetzen und dabei von ihrem Ursprung als verbindendes Symbol zu entkoppeln. Auf der anderen Seite spielt die Fahne bei prodemokratischen Demonstrationen wie #unteilbar oder Refugees welcome keine Rolle. Es gibt sogar Teilnehmer, die von Beschimpfungen berichten, nur weil sie eine Deutschlandfahne getragen haben.

To show the flag! Enrico Brissa

Eine Erfahrung, die auch Enrico Brissa, Protokollchef des Deutschen Bundestages, auf der #unteilbar Demonstration gemacht hat. In seinem in diesem Jahr erschienenen Buch Flagge zeigen! schreibt er über diese für ihn und seine Familie verstörende Situation und möchte aufzeigen, warum man gerade in Krisenzeiten Staatssymbole wie die Deutschlandfahne brauchen.

„Warum nehmen wir hin, dass die Symbole unserer Republik zunehmend von der extremen Rechten besetzt und umgedeutet werden? Wir dürfen unsere Symbole nicht verlieren, denn wir haben keine anderen!“

Enrico Brissa, Autor, Jurist und Protokollchef des Deutschen Bundestages

Aber ist „mehr Flagge“ die Lösung? Oder fördert das nur eine übertriebene nationale Selbstbezogenheit? Klaus Boehnke, Professor für Social Science Methodology an der Jacobs University Bremen, ist sich sicher, dass das Tragen nationaler Insignien erst einmal Distanz zu anderen schafft. Im Vordergrund, so Boehnke, stehe doch die Frage, wie wir mit zunehmender Vielfalt umgehen, nicht wie wir uns dagegen abschotten.

„Nationalismus oder Patriotismus sind rückwärtsgewandte Orientierungen, und die Fahnen stehen für ein ebensolches Gesellschaftsverständnis.“

Klaus Boehnke, Professor für Social Science Methodology an der Jacobs University Bremen

Ich kann beiden Herleitungen etwas abgewinnen. Auch mich verstören in Schwarz-Rot-Gold gehüllte Demonstrationen, halte aber gleichzeitig den Appell von Enrico Brissa für plausibel. Vor allem, weil die Flagge in den falschen Händen dazu führt, dass Schwarz-Rot-Gold im In- und Ausland als Farbcode für Nationalismus, Hass und Ausgrenzung wahrgenommen wird.

Ergebnisse aus der Farbwerte Workshopreihe "Im Mittelpunkt meines Landes"
Ergebnisse aus der Farbwerte Workshopreihe "Im Mittelpunkt meines Landes"

Im Kern war das auch die Motivation, 2009 die Initiative Farbwerte zu starten. Mit der Zielsetzung, die Flagge in partizipativen Formaten als Projektionsfläche zu positionieren und mit Bekenntnissen zu Vielfalt und Diversität, aber auch mit Kritik und Widersprüchen aufzuladen. Dabei ging es nicht um die Erhöhung eines nationalen Symbols, sondern um individuelle Interpretationen und persönliche Einordnung mit kreativen Mitteln. Vielleicht ist das ja das richtige Mittel, um Verachtung, Ausgrenzung und Hass den Raum zu nehmen.

Ich bin mir sicher, dass diese Debatte noch lange andauern wird.